Jean Draper: Stitch and Structure

 

Auf dieses Buch warte ich schon seit Langem. Jean Draper, eine britische Textilkünstlerin, bis vor einigen Jahren im Vorstand der Embroiderers’ Guild tätig und Mitglied der Gruppe „Textile Study Group“, hat endlich ein bemerkenswertes Buch herausgebracht, das ihre herausragenden Arbeiten nicht nur vorstellt, sondern auch ihre Arbeitsweisen und Methoden umfasst.

 

Die Autorin arbeitet überwiegend mit Handstichen und setzt diese wie eine Art Zeichnung ein und in zwei- sowie dreidimensionale Werke um. Im Zentrum ihres Interesses stehen Strukturen. Gebilde, Formationen, Gestaltungen, Konstruktionen, Bauweisen – wie auch immer man „Structures“ übersetzen mag – die einerseits in der natürlichen Umgebung vorkommen, andererseits vom Menschen erschaffen wurden. Sie sind Hauptlieferant für Inspiration, Design und Konstruktion ihrer Arbeiten (wobei hier der deutsche Begriff „Stickereien“ viel zu kurz greifen würde). So faszinierten die Autorin beispielsweise Felsformationen und extreme Landschaften und führten in den letzten Jahren zu außergewöhnlichen Interpretationen.

 

Alle ihre Arbeiten beginnen mit Recherchen: Schauen, Zeichnen, Fotografieren, Lesen. So ist es nur sinnvoll, dass das erste der sieben Kapitel ihres Buches auch damit anfängt, der Leserschaft Beispiele für verschiedene Strukturen als Quelle für daraus abgeleitete Designs zu geben. Dann folgt eine Phase, die sich mit dem Ausprobieren, dem Finden von Methoden befasst, wie das Thema textil umgesetzt werden kann – was folgerichtig in den weiteren Kapiteln ausführlich dargestellt wird.

 

Die Basismaterialien, Faden und Garn, werden nicht nur einfach konventionell verwendet, sondern darüber hinausgehend verändert und etwa durch Knoten, Wickeln oder Integration von weiteren Garnen oder anderen Materialien wie Papier oder Seide usw. neu gestaltet. Dies ergibt zunächst lineare Strukturen, die im nächsten Schritt zu dreidimensionalen Körpern, die an Körbe erinnern, gebildet werden.

 

Das fünfte Kapitel trägt die interessante Überschrift „Stitches in Thin Air“ und befasst sich mit fragilen frei hängenden oder stehenden textilen Gebilden und dem Einsatz von löslichen Stabilisatoren, ohne die solch reizvolle Gebilde gar nicht geschaffen werden könnten.

 

Natürlich kann man z.B. den Knopflochstich anwenden, um ein Knopfloch lege artis zu fertigen, man kann ihn aber auch als Zierstich „zweckentfremden“ und noch einen Schritt weiter in Richtung Spitze gehend ganz ohne Stoffhintergrund frei einsetzen. Im nächsten Kapitel stellt die Autorin nicht nur den Knopflochstich, sondern verschiedene Stiche vor und illustriert anhand von vielen Fotos, welche zwei- und dreidimensionalen Möglichkeiten darin stecken.

 

Im letzten Kapitel schließlich werden Stoffe bestickt, um daraus neue Oberflächen zu schaffen. Das Titelbild, das einen Ausschnitt aus „Rock Rhythms“ zeigt, ist ein Beispiel dafür, aber nur eines unter einer ganzen Palette von Möglichkeiten.

 

Jean Draper, die eine Ausbildung als Lehrerin und eine Karriere als Dozentin an verschiedenen Hochschulen und in der Lehrerfortbildung aufweisen kann, legt Wert darauf, anderen die Möglichkeit zu geben, eigene Ideen und einen individuellen Stil zu entwickeln und motiviert daher zu eigenem kreativem Tun. Keinesfalls möchte sie Ergebnisse vorgeben, sondern Ansatzpunkte und Möglichkeiten vorschlagen, Inspirationen geben, die Dinge auf den Weg bringen. Dazu findet man auch immer wieder ins Buch eingestreute farblich abgehobene Kästchen unter dem Titel „Further Work: You could …“ mit zusätzlichen Anregungen.

 

Auch wenn die Autorin nicht auf Grundlagen, die Fortgeschrittene sowieso schon kennen oder die leicht in anderer Literatur nachzuschlagen sind, eingeht, so führt sie doch aus, woher ihre Ideen kommen und welche Methoden sie daraus entwickelt hat. Man darf sich auf zwischen zwei textil eingebundenen Buchdeckeln befindliche 128 höchst inspirierende Seiten freuen, die mit sehr vielen großformatigen und aussagekräftigen Farbfotos und anschaulichen Zeichnungen gespickt sind. Um den vollen Nutzen aus dem Buch ziehen zu können, ist englisches Leseverständnis nötig, jedoch sind die motivierenden Illustrationen allein schon eine Augenweide. Eine unbedingte Empfehlung für alle Textilschaffenden mit Freude an experimenteller Handstickerei!

 

Jean Draper: Stitch and Structure – Design and technique in two- and three-dimensional textiles, Batsford, London 2013, ISBN: 978-1-84994-121-1, ca. 24 EUR

 

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